
Berlin Historiker zur Flaggenhissung am 2.5.1945: "Es ist das berühmteste manipulierte Foto der Weltgeschichte"
Ein Rotarmist hisst eine Sowjetflagge auf dem Reichstag vor dem zerstörten Berlin: Das ikonische Foto vom 2. Mai 1945 symbolisiert den Sieg über Nazideutschland. Obwohl das Bild gestellt war, liegt ihm eine tiefe Wahrheit zugrunde, sagt Historiker Hanno Hochmuth.
rbb|24: Herr Hochmuth, vor 80 Jahren, am 2. Mai 1945 fotografierte der sowjetische Kriegsfotograf Jewgeni Chaldej das Ende der Kämpfe um Berlin. Das Foto ist ein Symbol für das Ende des Zweiten Weltkriegs. Wie spontan war die Aufnahme?
Dr. Hanno Hochmuth: Eigentlich war dieses Foto sowohl viel zu spät als auch viel zu früh.
Denn die eigentliche Erstürmung des Reichstags hat anderthalb Tage früher in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai stattgefunden. Das Gebäude war sehr umkämpft, da wurde geschossen, außerdem war es dunkel. Damals konnte man Dunkelheit noch nicht gut festhalten, zumal Heckenschützen genau gewusst hätten, wo jemand ist, wenn es geblitzt hätte.
Andererseits war es viel zu früh, weil der Krieg in Europa noch weiter ging. Erst eine Woche später war er mit den Kapitulationen in Reims am 7. Mai beziehungsweise mit der Kapitulation in Berlin-Karlshorst am 8. Mai zu Ende, wobei in Russland immer der 9. Mai gefeiert wird, weil es in Moskau schon nach Mitternacht war.
Warum wurde das Foto auf dem Reichstag gemacht?
Das ist ganz interessant. Eigentlich ist das Foto nur eines einer ganzen Reihe von Fotos, die Chaldej an diesem Tag an wichtigen Orten der Stadt aufgenommen hat. Er stand auf dem Brandenburger Tor und er fotografierte auch eindrucksvoll auf dem Flughafen Tempelhof, wo früher ein riesiger bronzener Nazi-Adler auf der Empfangshalle prangte. An allen Orten sieht man Rotarmisten, die die rote Flagge über Berlin hissen.
Aber kein Foto ist so berühmt wie das auf dem Reichstag.
Ich glaube, das hat zwei Gründe, warum die anderen Fotos vergessen wurden. Das eine ist ästhetischer Natur. Das auf dem Reichstag ist einfach dynamischer, wesentlich besser inszeniert und viel ansprechender als etwa das Foto an der völlig zerschossenen Quadriga auf dem Brandenburger Tor.
Zum anderen hat der Reichstag als Gebäude für die Rote Armee und insbesondere für Stalin eine ganz große Symbolkraft. Denn hier fand am 27. Februar 1933 der Reichstagsbrand statt. Die Nazis beschuldigten damals die Kommunisten allgemein, den in Brand gesteckt zu haben. Für Stalin begann damit die Verfolgung des Kommunismus, der Roten. Das Foto zeigt, wie die Roten Hitler das Handwerk legen. Das heißt, sie kehren zu den Ursprüngen der Verfolgung zurück.
Dabei spielte der Reichstag ab dem Ermächtigungsgesetz im März 1933 keine Rolle mehr.
Woher kam die Flagge? Manche Quellen sprechen davon, dass sie direkt aus Moskau geliefert wurde. Nach anderen Aussagen hat sie Chaldej selbst gebastelt...
Ich glaube, das ist ganz schwierig zu bestimmen. Unklar ist bis heute, welche die Original-Flagge war. Man weiß nur: Die, die heute in Moskau ausgestellt ist, ist es nicht. Denn die sieht ganz anders aus. Auch welcher Rotarmist sie geschwenkt hat, ist unklar. Denn neun verschiedene Männer reklamierten später für sich, es gewesen zu sein.
Chaldej selbst sagt in einem Selbstzeugnis aus den 1990er Jahren, er hätte die Flagge unter seiner Uniform getragen und oben auf dem Reichstag eine Stange gefunden. Dafür sieht sie eigentlich zu professionell aus, das ist keine notdürftig aufgezogene Flagge.
Aber das führt uns zur Inszenierung und Manipulierung des Bildes, was sich durch das ganze Foto durchzieht.

Was wurde denn alles auf dem Foto inszeniert?
Das Bild ist retuschiert worden. Zum einen sieht man über dem schemenhaft erkennbaren Brandenburger Tor Rauchschwaden. Aber das Foto ist ja aufgenommen worden, als die Kampfhandlungen in Berlin bereits eingestellt gewesen sind. Man wollte damit zeigen, dass das Foto noch während der Kampfhandlungen gemacht wurde. Außerdem ist direkt dort, wo ungefähr der Rauch ist, die Reichskanzlei gewesen, darunter der Führerbunker. Also das Herz der NS-Diktatur. Das finde ich ein ganz interessantes Detail: Die Rauchschwaden steigen nicht irgendwo auf, sondern direkt dort.
Noch berühmter ist eine andere Retuschierung: Der Soldat, der den Fahnenhisser beim waghalsigen Vortreten von unten abstützt, trägt auf den meisten Fotos des 36er-Films, der in Chaldejs Privatarchiv erhalten worden ist, mehrere Uhren an beiden Handgelenken. Chaldej erzählte später, dass er die Fotos gleich am nächsten Tag zur großen sowjetischen Nachrichtenagentur TASS (russ. TACC, Anm. d. Red.) gebracht hat. Ein Bildredakteur habe sofort gesagt, dass das nicht gehe. Denn man sehe deutlich, dass der Soldat geplündert habe, weil er mehr als eine Armbanduhr trägt. Und schon der Bildredakteur in Moskau wusste, dass so ein kleines Zeichen einen schlechten Eindruck bei der Veröffentlichung machen würde.
Ist es in der Geschichte öfter vorgekommen, dass Fotos verändert oder gestellt wurden?
Es ist sicherlich das berühmteste manipulierte Foto der Weltgeschichte. Diese Retuschierfähigkeit ist wirklich erstaunlich. Das war in der stalinistischen Sowjetunion legendär. Man denke an die Gruppenfotos von Stalin und Mitgliedern seines Politbüros, auf denen immer einer nach dem anderen geschickt rausretuschiert wurde und dann fehlte. Aber inszenierte Fotos hat es auch überall auf der Welt gegeben.
Und trotzdem liegt diesem Bild eine tiefere Wahrheit zugrunde. Das ist mir auch wichtig zu sagen. Die Rote Armee hat mit zweieinhalb Millionen Soldaten, die Berlin erobert haben, den Nationalsozialismus zerschlagen. Das kommt in diesem Bild in einer höchst verdichteten Form zum Ausdruck, und wird nicht dadurch entwertet, dass wir heute wissen, wie dieses Bild inszeniert und manipuliert wurde.
Es war eine der größten Schlachten des gesamten Zweiten Weltkriegs. Ich möchte eine krasse Zahl in Erinnerung rufen: Bei der Schlacht um Berlin, beginnend mit den Seelower Höhen am 16. April bis zum 2. Mai 1945, sind 90.000 Sowjetsoldaten gestorben, 500.000 wurden verwundet. Nochmal etwa genauso viele Wehrmachtssoldaten sind in dieser Schlacht gefallen, mehrere Zehntausend Zivilisten auf deutscher Seite umgekommen. Und man schätzt, dass mehrere Tausend Menschen in dieser Zeit Selbstmord begangen haben. Der Tod war allgegenwärtig an diesem 2. Mai.
Jewgeni Chaldej gilt als einer der berühmtesten Kriegsfotografen des Zweiten Weltkriegs. Kann man an seinen Bildern seine politische Haltung ablesen oder war er ein Medium der Politik im Hintergrund?
Ich würde eher sagen, dass er ein Medium der Politik im Hintergrund war. Er hat ja selbst sehr viel Krieg und Leid gesehen, er war an den zentralen Kriegsschauplätzen ab 1941. Auch schon in Budapest hatte er zuvor ähnliche Fotos gemacht, wie die Stadt erobert wurde. Er war also keinesfalls oppositionell zur sowjetischen Kriegsführung.

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Wie ist er zum Kriegsfotografen geworden? Welche Struktur stand dahinter?
Chaldej kam als Autodidakt zu dem Beruf. Er hatte nur vier Jahre Schulausbildung und hat dann selbst angefangen, Fotoapparate mit Linsen, Brillen und Objektiven zu bauen. Auf diese Art und Weise ist er zur TASS, der sowjetischen Nachrichtenagentur, gekommen.
Es war in der Kriegsführung Standard, auch bei der deutschen Wehrmacht, dass man Kriegsberichterstatter und Kriegsfotografen in Propagandakompanien zur vordersten Frontlinie gebracht hat. Dieser Zweite Weltkrieg war ein starker Krieg der Bilder, wichtig für die Dokumentation wie auch für die Propaganda in der Heimat. Dabei wurden kein Leid und Verwundungen gezeigt, sondern eher die Heldenposen inszeniert.
Das hatte auch technische Gründe: Im Zweiten Weltkrieg war es bereits viel einfacher als im Ersten Weltkrieg, Fotos mit der Handkamera zu machen. Die konnte man auch an die vorderste Front mitnehmen, musste dort kein Stativ mehr aufbauen und von oben seinen Kopf in eine Kamera reinstecken, wo man ein leichtes Ziel gewesen wäre, sondern konnte sozusagen aus der Deckung Fotografien machen.

Wie wird dieses Foto heute in Russland gesehen?
Wie alle Bildikonen entfernen sich diese Bilder ja sehr, sehr von dem Ursprungsereignis und werden auch mit unterschiedlichen Interessen immer weiter produziert und eingesetzt. Meine Vermutung ist, dass dieses Bild jetzt im heutigen Russland eben auch eine sehr, sehr große Verwendung hat. So war es zumindest in der Sowjetunion, so war es auch noch in Russland nach 1991. Das ist mit ganz unterschiedlichen Interessen und Motiven verbunden.
Was würden Sie sagen – was ist die Bedeutung dieses ikonischen Bildes?
Dass es das Ende des Zweiten Weltkriegs darstellt. So wie es inszeniert worden ist, zeigt es auch die historische Bedeutung dieses Moments, die Befreiung vom Nationalsozialismus.
Das zweite ist, dass wir mit historischen Fotografien sehr vorsichtig umgehen müssen und dass man immer ganz genau darauf schauen muss. Nichts auf diesen Fotos ist in der Regel so, wie die Wirklichkeit gewesen ist. Wir lernen also den kritischen Blick auf die historische Fotografie.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Jenny Barke, rbb24.de.