Arbeitslose Bürger

Nordrhein-Westfalen Diskussion um neue Grundsicherung: Zurück zu Hartz IV?

Stand: 02.05.2025 12:19 Uhr

Gewerkschaften kritisieren die Arbeitsmarkt-Pläne der neuen Bundesregierung. Praktiker fürchten: Mehr Sanktionen bringen mehr Bürokratie.

Von Felix Mannheim und Martina Koch

Patrick Schlosinski kommt mit einer guten Nachricht zum Jobcenter StädteRegion Aachen: Zum 5. Mai wird er wieder arbeiten, bei einer Zeitarbeitsfirma. Der 44-Jährige ohne Berufsabschluss hofft, dass dann die Zeit vorbei ist, in der er immer wieder Bürgergeld brauchte, unterbrochen durch kurze Aushilfsjobs. Er sagt, "ein Arschtritt vom Amt" habe ihm dabei geholfen, nach eine Phase der Antriebslosigkeit wieder auf die Beine zu kommen.

Patrick Schlosinski vor dem Jobcenter StädteRegion Aachen

Patrick Schlosinski vor dem Jobcenter StädteRegion Aachen

Mit "Arschtritt" meint Schlosinski Sanktionen: Sein Bürgergeld wurde gekürzt, weil er Termine verpasst hatte. Das habe ihn "natürlich erst geärgert". Im Nachhinein sei er aber froh über den Druck. Wenn man das Geld auf jeden Fall bekomme, "braucht man sich ja um nichts zu kümmern", sagt er.

Neue Bundesregierung will Sanktionen ausweiten

Die neue Bundesregierung will laut Koalitionsvertrag die Sanktionsmöglichkeiten für Jobcenter nun deutlich ausweiten. Statt teilweiser Kürzungen, wie bei Schlosinski, soll auch ein völliger Entzug der Mittel möglich werden. Etwa wenn Menschen sich weigern, Arbeit aufzunehmen. Insgesamt soll das "Fordern" wieder vor dem "Fördern" kommen. Menschen sollen schneller und mit mehr Druck zurück in Arbeit gebracht werden.

Gewerkschaft: Tritt nach denen, die am wenigsten haben

Dabei ist der Ton oft scharf, immer wieder wird mit "Totalverweigerern" argumentiert, die das Sozialsystem ausnutzen würden. Bei der zentralen Kundgebung zum Tag der Arbeit in NRW kritisierte die DGB-Landesvorsitzende Anja Weber deshalb: "Es muss Schluss sein damit, dass ständig nach denen getreten wird, die am wenigsten haben." Sie fürchtet durch die Reformvorhaben ein Zurück zu "Hartz IV". Dem Arbeitsmarktmodell, das die Ampel-Koalition mit dem "Bürgergeld" doch überwinden wollte.

Harald Schartau steht zu Hartz IV

Harald Schartau in seiner Zeit als NRW-Arbeitsminister im Jahr 2000

Harald Schartau in seiner Zeit als NRW-Arbeitsminister im Jahr 2000

Der frühere NRW-Arbeitsminister Harald Schartau (SPD) war vor gut 20 Jahren Teil der Kommission um Peter Hartz, die neue Regeln für die Arbeitsmarktpolitik entwickelte. Auch wenn die damals unter dem Titel "Hartz IV" beschlossenen Verschärfungen für Langzeitarbeitslose in seiner Partei immer umstritten blieben: Im Interview mit dem WDR-Magazin Westpol betont er, sie seien dringend nötig gewesen. Er begrüßt, dass die strengeren Regeln von damals wieder gültig werden sollen. "Ich stehe ohne Wenn und Aber zu der Arbeit, die damals gemacht wurde", sagt Schartau.

Die Zustimmung zum Koalitionsvertrag durch die SPD-Basis zeigt, dass auch die SPD insgesamt den Weg zurück zu strengeren Sanktionen mitträgt. Prof. Stefan Sell, Arbeitsmarktforscher der Hochschule Koblenz, erklärt dies damit, dass der Partei in den Koalitionsverhandlungen ihre rentenpolitischen Vorstellungen wichtiger waren, als der Arbeitsmarkt. Rentnerinnen und Rentner seien für die SPD eine wichtigere Wählergruppe, als Grundsicherungsempfänger. Die Partei wolle den Begriff Hartz IV loswerden. Was im Jobcenter gilt, solle anders heißen – nicht mehr unmittelbar mit der SPD verknüpft sein. Was jetzt wohl "neue Grundsicherung" genannt werde, sei aber letztlich wieder das alte Modell.

Jobcenter-Chef: Totalverweigerer seien "verschwindend geringe Gruppe"

Jobcenter-Leiter Stefan Graaf

Jobcenter-Leiter Stefan Graaf

Nur: Helfen strengere Sanktionen wirklich? Zurück im Jobcenter StädteRegion Aachen. Der Leiter Stefan Graaf ist auch Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Jobcenter. Er sagt, es sei wichtig, dass die Absicherung von Arbeitslosen gesellschaftlich anerkannt sei. Scheine sie zu hoch oder zu leicht zu behalten, entstehe daraus Ungerechtigkeitsempfinden. Die Mitwirkungspflichten zu betonen helfe, "die Akzeptanz des Systems wieder zu stärken".

Trotzdem hat die Debatte aus seiner Sicht eine gefährliche Schlagseite: Totalverweigerer seien "eine verschwindend geringe Zielgruppe". Statt vor allem darüber zu diskutieren, wie man für diese Zahlungen ganz einstellen kann, wünscht er sich Reformschritte, die den Jobcentern ihre Arbeit wirklich erleichtern. Etwa die Möglichkeit, Förderungen ohne bürokratischen Aufwand vorübergehend einzufrieren, wenn Menschen Termine nicht wahrnehmen. Das könnte schnellere Reaktionen ermöglichen – während jede dauerhafte Sanktion erstmal großen bürokratischen Aufwand bedeute.

Fehlende offene Stellen als Problem

Zudem werde gerade oft ignoriert, dass es bereits Sanktionsmöglichkeiten gebe – und diese auch in den letzten zwei Jahren der Ampel schon wieder wesentlich häufiger genutzt wurden. Das eigentliche Problem für die große Gruppe der Jobcenter-Kunden, die arbeiten wollen, sei, dass es wegen der Wirtschaftskrise zu wenig offene Stellen gebe, so Jobcenter-Leiter Graaf.

Patrick Schlosinski freut sich erstmal darauf, bald kein Bürgergeld mehr zu brauchen. Die teilweisen Sanktionen, die ihn zeitweise getroffen haben, waren für ihn Ansporn, Termine wahrzunehmen. Auf null gesetzt zu werden – das hätte für ihn "Existenznot bedeutet". Und er sagt: Ohne Geld, vielleicht ohne Wohnung, ohne Essen hätte er persönlich zumindest, sich noch viel weniger um seine Rückkehr in Arbeit kümmern können.

Unsere Quellen:

  • Bundesagentur für Arbeit NRW
  • Jobcenter StädteRegion Aachen
  • Interviews
  • eigene Recherchen

Darüber berichten wir auch im WDR-Fernsehen, in der Sendung Westpol am 4.5.2025, ab 19:30 Uhr.