
Hamburg Leben im Dublin-Zentrum: Ohne Geld auf die Abschiebung warten
Abgelehnte Asylbewerber, für die ein anderer EU-Staat zuständig ist, bekommen in Hamburg keine Sozialleistungen mehr. So schreibt es eine neue Regelung der Bundesregierung vor. Das Ziel: Diese "Dublin-Fälle" zum Ausreisen zu bewegen. Auch zwei russische Brüder sind davon betroffen.
Seit einer guten Woche leben die Brüder Apti und Magomed im Hamburger Dublin-Zentrum, als sie am 23. April mit NDR Info sprechen. Hier können sie schlafen, duschen und bekommen regelmäßige Mahlzeiten. Vor drei Jahren sind die Russen aus ihrer Heimat zunächst nach Kroatien geflohen, weil sie nicht gegen die Ukraine kämpfen wollten, wie sie erzählen. "Ich denke, es ist offensichtlich, dass die Ukraine die große geopolitische Katastrophe in unserer Zeit ist." Magomed redet Deutsch, unerwartet gutes Deutsch.
Weil die beiden Männer in diesen Tagen in andere EU-Länder abgeschoben werden sollen, also sogenannte Dublin-Fälle sind, hat ihnen das Amt für Migration der Stadt Hamburg die monatlichen Asylbewerberleistungen von 173,50 Euro gestrichen. "Um ehrlich zu sein, habe ich im Moment noch fünf Euro. Das ist alles, was ich noch besitze", sagt Apti auf Russisch.
8,85 Euro für zwei Wochen - danach droht Obdachlosigkeit
8,85 Euro bekommen Menschen wie er in Hamburg noch auf ihre Bezahlkarte geladen, nachdem ihnen die Asylbewerberleistungen gestrichen wurden. Gedacht für zwei Wochen - amtlich genehmigt für die Körperpflege. Schlafen dürfen sie im Dublin-Zentrum, Mahlzeiten bekommen sie dort auch. Überbrückungsleistung heißt das und soll für die Zeit bis zur Abschiebung reichen. Aber Kleidung, Schuhe, ein Busticket oder Geld für Handyguthaben steht den Menschen dann nicht mehr zu. Krankenversorgung nur im Notfall.
Nach zwei Wochen haben die Betroffenen auch auf all das kein Recht mehr - sie würden mittel- und obdachlos werden. In Hamburg dürfen sie dann allerdings bisher im Dublin-Zentrum wohnen bleiben - aus Billigkeitsgründen. Also weil Hamburg es ihnen erlaubt, ohne rechtlich dazu verpflichtet zu sein.
Ohne Geld auf die Abschiebung warten

Aus Angst vor russischer Repression möchten die Brüder anonym bleiben.
Kaffee und Süßigkeiten habe er sich von den 8,85 Euro gekauft, erzählt Apti. "Ich finde die Situation schrecklich. Mir wurde das Geld abgeschnitten, mein Ausweis ist nur noch eine kurze Zeit gültig. Das heißt, man hat mich in allem eingeschränkt. Praktisch jede Nacht wird jemand bei uns aus dem Lager mitgenommen und deportiert."
Sein älterer Bruder Magomed hat an diesem Tag kein Geld mehr auf seiner Karte - und weiß auch noch nicht, ob oder wann er wieder etwas bekommt. Seit drei Wochen erhält er offiziell keine Sozialleistungen mehr. Im letzten Schreiben verlangte das Amt eine Rückzahlung von 72,12 Euro von ihm - für zu viel geleistete Gelder. Zahlen könne er das nicht.
Der 24-Jährige wartet auf den Brief, in dem ihm die Überbrückungsleistung angekündigt wird. Immerhin gebe es im Dublin-Zentrum WLAN, sagt Magomed. Es sei sauber dort, sehr ruhig. Und er hat noch ein altes, gültiges Busticket in der Tasche, Apti nicht mehr. Der kann nur noch zu Fuß durch die Straßen laufen. "Ja, es ist traurig ein bisschen, weil ich nicht weiß, wie viele Tage wir hier verbringen werden."
Betroffen von der Leistungsstreichung sind nach Angaben der Innenbehörde bisher mehr als 30 allein reisende Männer. Sie stammen aus mindestens acht verschiedenen Ländern, darunter Afghanistan, Syrien und die Ukraine.
Leistungsstreichung als Folge eines Anschlags
Apti und Magomed haben kein Geld mehr, weil die Bundesregierung Menschen wie sie zur Ausreise drängen will. Im Herbst vergangenen Jahres beschloss die damals amtierende Bundesregierung das "Sicherheitspaket". Es war die Antwort auf den Anschlag von Solingen, bei dem drei Menschen getötet wurden. Der mutmaßliche Täter hätte Monate vor dem Anschlag den EU-Asylregeln zufolge nach Bulgarien abgeschoben werden sollen. Doch dazu kam es nicht.
Die Reaktion der Regierung war eine Gesetzesänderung, die abgelehnten Asylbewerbern die Asylbewerberleistungen streicht, sofern ein anderer EU-Staat sich zuständig erklärt und eine Überstellung dorthin "rechtlich und tatsächlich" in absehbarer Zeit möglich erscheint.
Wegen dieser neuen Regelung streicht auch Hamburg Betroffenen die Sozialleistung und verlegt sie dann grundsätzlich ins neue Dublin-Zentrum.
Sozialgericht Hamburg: Leistungsstreichung ist rechtswidrig
Diese Streichung aller Sozialleistungen sei rechtswidrig, entschied das Hamburger Sozialgericht kurz vor Ostern in drei Urteilen. Denn ob betroffene Personen "rechtlich und tatsächlich" ausreisen können, sei gar nicht individuell geprüft worden, bemängelte das Gericht. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) schreibe dies zwar auf den Leistungsbescheid, schaue sich aber den Einzelfall gar nicht an.
"Dublin-Fälle" dürfen nicht allein ausreisen
Zudem könnten "Dublin-Fälle" nicht einfach legal selbst dorthin reisen, wo sie Sozialleistungen erhalten würden, da sie keine Reisepapiere besitzen. Das erklärt die Juristin Lena Frerichs von der spendenfinanzierten Gesellschaft für Freiheitsrechte, die die Urteile mit erwirkt hat. "Das bedeutet, sie brauchen für ihre Ausreise bestimmte Papiere, ein sogenanntes Laissez-Passer. Und sie brauchen die Organisation der Ausreise. Und man braucht vor allen Dingen die Zustimmung des anderen EU-Staates, in den sie einreisen wollen. Das bedeutet: Eine freiwillige Ausreise ist den Antragstellern in diesen Verfahren nicht möglich."

Die Juristinnen Lea Frerichs und Malena Bayer haben die Entscheidungen vor dem Sozialgericht Hamburg erwirkt.
Stadt bestätigt, dass Dublin-Fälle nicht allein ausreisen können
Das bestätigte zwar auch der Hamburger Senat auf eine Anfrage der Linken. Trotzdem wurden auch die Brüder Apti und Magomed darauf hingewiesen, dass sie nach zwei Wochen kein Recht mehr auf Bett und Verpflegung haben, sollten sie sich noch im Land aufhalten. Doch Apti wartete auch nach über zwei Wochen noch auf seine Abschiebung, durfte nicht allein ausreisen und bekam keinen Euro mehr. Genau davor hatten Expert*innen von Pro Asyl und dem Paritätischen Gesamtverband in der Bundestagsanhörung zum "Sicherheitspaket" vergangenen Herbst gewarnt.
Hamburg will weiter Leistungen streichen
Die Hamburger Innenbehörde hat nun angekündigt, die Urteile gemeinsam mit der Sozialbehörde zu prüfen. In der Zwischenzeit will sie die Leistungen auch weiterhin streichen. Man sei von der Rechtmäßigkeit überzeugt. Zudem sei das Dublin-Zentrum hilfreich, um Asylsuchende voneinander zu unterscheiden und die Zustellung von Bescheiden und die Abschiebung selbst zu erleichtern, erklärt eine Sprecherin.
Juristin Frerichs kündigt an, weiterhin rechtlich gegen die Leistungsstreichung vorzugehen. "Ich finde das einen krassen Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze. Jede Behörde ist gebunden an Recht und Gesetz. Wir haben einen offensichtlichen Verstoß gegen Verfassungs- und EU-Recht. Und die Behörde möchte einfach so weitermachen. Das geht nicht."
Mehrere Gerichte heben Leistungsstreichung auf
Frerichs bezieht sich auf zahlreiche Gerichtsentscheidungen in verschiedenen Bundesländern. Dort wurde die Leistungsstreichung in Eilverfahren bereits einkassiert, da sie voraussichtlich nicht mit EU-Recht und dem Grundgesetz vereinbar sei. Die neue Bundesregierung will das Vorgehen laut Koalitionsvertrag trotzdem beibehalten.
Wir sorgen für eine konsequente Umsetzung der bestehenden Anspruchseinschränkungen im Leistungsrecht."
— Koalitionsvertrag Union und SPD, S. 95
Rostock verschickt ebenfalls Leistungsstreichungen
Die Bundesländer handhaben die neue Regel derzeit unterschiedlich. Einige Länder wie Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz streichen die Leistungen. Andere nicht. In Mecklenburg-Vorpommern ist man sich uneins: Das Innenministerium erklärte in einem Schreiben an die Kommunen, ein Leistungsauschluss sei "zwingend zu vermeiden", da er voraussichtlich rechtswidrig sei. Stadt und Landkreis Rostock haben allerdings trotzdem Leistungsstreichungen verschickt. Niedersachsen wünscht sich eine bundesweit einheitliche Regelung.
Irrweg durch Europa aus Angst vor Abschiebung nach Russland
Apti und Magomed irren nun seit drei Jahren durch Europa - reisten von Russland nach Kroatien - und ohne die Asyl-Entscheidung dort abzuwarten weiter. "Ich kannte die Regeln damals nicht. Kroatien gehörte noch nicht dem Schengen-Raum an und ich dachte, es könnte uns in ein Nicht-EU-Land abschieben und dann weiter nach Russland", begründet Magomed die Weiterreise.
Die Angst, auch aus der EU nach Russland abgeschoben zu werden, ist begründet: Denn Deutschland erkennt russische Asylsuchende fast nie an, obwohl es mittlerweile Tausende versuchen. Und sowohl Deutschland als auch Österreich schieben trotz organisatorischer Schwierigkeiten nach Russland ab.
Die Angst brachte die jungen Brüder nach Slowenien, Österreich, Belgien und Deutschland. Nirgends wurde ihr Antrag bisher entschieden, immer nur auf das zuvor zuständige Land verwiesen. Kroatien, das sie laut Dublin-Regelung aufnehmen müsste, habe ihre Aufnahme aber abgelehnt, sagen sie.
Abschiebung in unterschiedliche Länder
Daher will Deutschland Magomed nach Belgien bringen. Er sei nicht traurig oder unruhig, sagte der gelernte Buchhalter. Er habe mit der Entscheidung gerechnet. "Ich werde versuchen, mein Verfahren in Belgien zu beenden. Werden Sie mir eine positive oder negative Antwort geben? Mal sehen. Ich weiß es jetzt nicht."
Apti hingegen soll nach Österreich gebracht werden. Der 22-Jährige wirkt gestresst, er habe psychische Probleme, erzählt er. "Ich fühle die Gefahr. Die Gefahr, dass ich deportiert werden kann." Er habe vor allem vor der Trennung von seinem Bruder Angst. Dagegen habe er Briefe geschrieben - aber ohne Erfolg.
Update: Wenige Tage nach dem ersten Treffen melden die Brüder sich noch einmal bei NDR Info. Am Wochenende seien sie ohne Zutun der Behörden selbständig und gemeinsam nach Belgien gereist, berichten sie. Ohne Reisepapiere. Dort, so hoffen sie, könnten sie weiter zusammen bleiben.
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Aktuell | 29.04.2025 | 07:47 Uhr