
Briten feiern 80 Jahre Kriegsende Pomp und Nachdenklichkeit
Großbritannien feiert den Sieg über Nazi-Deutschland vier Tage lang, mit Paraden, Straßenpartys, Lichtshows und Konzerten. Doch vielen Briten richten mit der Erinnerung den Blick auf die Krisen der Gegenwart.
Kinder tollen durch einen Park im östlichen Londoner Stadtteil Wapping, verkleidet als kleine Soldaten. Es gibt Bratwurst, im Hintergrund läuft 40er-Jahre Musik: "We’ll meet again" - ein Klassiker, der Familien trösten sollte, deren Liebsten in den Krieg gezogen waren. Erwachsene, manche in Kostümen, tanzen dazu.
Auf den ersten Blick wirkt alles wie vergnügtes Feiern des Sieges über Nazi-Deutschland vor 80 Jahren. Hunderte solcher Straßenpartys haben diese Woche im ganzen Land stattgefunden, so wie im Mai 1945, als Nachbarn ihre letzten Rationen Brot, Butter und Tee zusammentrugen.
Es hat stets das britische Selbstverständnis geprägt, auf der richtigen Seite der Geschichte gekämpft zu haben. Wie etwa der Daily Telegraph schreibt: "Der Victory in Europe Day gibt den Briten das Geschenk, unmissverständlich und ungeniert stolz auf ihr Land zu sein."
Überdimensional wurde der Union-Jack diese Woche auf britische Wahrzeichen projiziert: auf den Big Ben in London, auf das Belfaster Rathaus und auf die Stadtverwaltung von Edinburgh.

Auch am Regierungssitz in Downing Street wurde gefeiert - mit einer richtigen Straßenparty, zu der Premier Starmer und seine Frau Victoria geladen hatten.
Nachdenkliche Töne
Doch auf der Straßenparty in Wapping sind die Briten auch nachdenklich. "Wir müssen uns den Deutschen, den Europäern nach dem Brexit weiter annähern", mahnt Christopher West, 76 Jahre alt. Er ist mit seinem Rollator in den Park gekommen.
Der Krieg in der Ukraine beschäftige ihn, sagt er. "Und die USA realisieren nicht, dass dieser Krieg auch ihr Problem ist", so West. Nicht nur die Veteranen seien ihm heute im Kopf. Auch die jungen Rekrutinnen und Rekruten, die Großbritannien nun brauche.
Droht die Rückkehr "dunkler Zeiten"?
Ein jüngerer Nachbar, Paul Calloway, sagt: "Nach dem Zweiten Weltkrieg dachte man, der Frieden würde bleiben. Nun fühlt es sich an, als bröckle er. Wir dürfen nicht wieder in diese dunklen Zeiten rutschen."
Er achte auch darauf, das Leid der britischen Soldaten und ihrer Angehörigen nicht zu vergessen. Andere sprechen über ihre Angst vor einer Eskalation im Nahen Osten, vor einem dritten Weltkrieg, davor, dass Europa weiter nach rechts rutsche.
Viele betonen: In dieser Woche gehe es um den Zusammenhalt der Nation, mehr denn je.

Gewiss nicht "clueless"(ratlos): Die Briten vertrauen darauf, auch heute auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.
Feierlichkeiten mit Beigeschmack
"Bittersüß" nennt der britische Historiker Tim Bouverie die Feierlichkeiten in diesem Jahr:
Es ist richtig, aller zu gedenken, die gestorben sind. Aber wir laufen Gefahr, die Lektion der 1930er-Jahre und des Zweiten Weltkriegs zu vergessen. Wir sehen einen Krieg in Europa, künstliche Bemühungen Putins um einen Frieden und eine besorgniserregende Tendenz von US-Präsident Trump, Putin für seine Aggression zu belohnen.
Auf der richtigen Seite stehen
Die Briten aber wollen weiter auf der richtigen Seite stehen, so fühlte es sich zumindest am Montag an: Die pompöse Militärparade durch das Zentrum Londons, entlang des Buckingham Palastes, war mehr als Gold und Glitzer.
Auf Einladung der Regierung zogen auch ukrainische Soldaten an der Ehrentribüne vorbei, auf der König Charles III. ihnen salutierte, unter lautem Jubel der Zuschauer.
Die Einladung solle ein Zeichen sein, teilte das Verteidigungsministerium mit, für die anhaltende globale Unterstützung für die Ukraine und ihren "Kampf für die Freiheit, gegen Russlands illegale Invasion". Dies ist einer der wenigen Punkte, bei dem die britische Politik über Parteigrenzen hinweg an einem Strang zieht und ein guter Teil der Bevölkerung hinter ihr steht.

Ihre Teilnahme traf auf breite Unterstützung: Angehörige der ukrainischen Armee waren Teil der Parade zum Jahrestag des Kriegsendes.
Wissen geht verloren
Doch auch wenn Zehntausende Schaulustige nach London gereist waren, stundenlang auf Parade und Flugschau warteten, eingewickelt in Union-Jack-Flaggen - in Teilen der Bevölkerung versiegt die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Nur ein Drittel der 18- bis 24-Jährigen weiß laut einer Umfrage der gemeinnützigen Organisation "More in Common", dass am 8. Mai die Deutschen kapitulierten.
Historiker Tim Bouverie ist besorgt, denn es gehe beim Gedenken um etwas Essentielles:
Die Briten und Franzosen haben nicht gekämpft, weil sie ein strategisches Interesse oder besondere Sentimentalität für Polen hatten, sondern weil Aggression, das Gesetz des Dschungels, nicht gewinnen durfte. Es darf auch heute nicht der Modus der internationalen Politik werden."

Man kann sich einen Union Jack umhängen, wenn es dieser Brite zur Parade in London getan hat. Oder man näht sich gleich eine ganze Hose daraus.
Leichtes Ende einer herausfordernden Woche
Militärhistoriker Hew Strachan regte im Londoner Radiosender LBC an: "Einige der jüngeren Veteranen finden, dass Großbritannien sich zu sehr mit den Jahrestagen der Weltkriege beschäftigt. Sie wünschen sich mehr Fokus auf aktuelle Konflikte."
Viele Briten beschäftigen diese ohnehin. Vielleicht enden die Feierlichkeiten in Großbritannien auch deshalb eher leicht, nach einer Woche Gedenken: mit Backwettbewerben, Strick-Meisterschaften, Musik, Tanz und viel Tee.